Nicole Wilhelm

Gedanken von Jesper Juul

Die Gedanken und Werte von Jesper Juul berühren viele Menschen im Innersten. Sie im Alltag zu Leben ist jedoch zuweilen eine Herausforderung.
Hier schreibe ich über mein Verständnis dieser Gedanken, wie ich es im Austausch mit ihm entwickelt habe. Es kommen regelmäßig neue Gedanken dazu.

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Ich habe meinem Sohn abends nach einem langen Tag viele Seiten Harry Potter vorgelesen. Als ich gute Nacht gesagt habe, meinte er:

„Nur noch das Kapitel fertig, bitte.“

„Nein, ich will nicht, ich bin zu müde.“

„Immer bist du müde.“

„Ja, abends eigentlich immer, das stimmt.“

Darf er seinen Wunsch äußern, auch beharrlich, oder ist er dann undankbar, empathielos und „ein Fass ohne Boden“?

Die von Jesper Juul beschriebene Gleichwürdigkeit meint, dass die Wünsche, Anschauung und Bedürfnisse aller Menschen den gleichen Wert haben.

Und in dieser abendlichen Situation gab es zwei eben unterschiedliche Wünsche: Mein Sohn wollte, dass ich weiterlese, und ich wollte es nicht. Da es meine Zeit und meine Energie ist, darf ich darüber bestimmen, wie ich sie einsetzen will – und ich wollte Pause haben.

Was so einfach klingt, erzeugt manchmal ziemlich viel Stress in uns. Vielleicht liegt es daran, dass es in unserer Kindheit nicht in Ordnung war, nein zu sagen und sich abzugrenzen. Dann war man ja nicht „lieb“, vielleicht gab es Abwertung oder Bestrafung, wenn man den Erwartungen der Erwachsenen nicht entsprach.

Sei nicht so egoistisch – denk auch mal an die anderen – immer soll es nach deinem Kopf gehen – nie bist du zufrieden – du bist so undankbar…“ Und wenn es heute dazu kommt, dass zwei unterschiedliche Wünsche im Raum sind, hallt das Echo dieser Sätze in uns noch nach.

Dann kann es sein, dass wir uns selbst abwerten (Es ist furchtbar mit mir, mein armes Kind erlebt mich immer müde, es muss ja denken, dass es eine Belastung für mich ist...) – oder wir gehen gegen unser Kind vor (Jetzt habe ich schon so lange vorgelesen, jetzt ist auch mal Schluss, nie bist du zufrieden, immer muss es noch mehr sein...) – und manchmal „meckern“ wir erst mit unserem Kind, und dann gehen wir gegen uns selbst, weil wir geschimpft haben.

Um aus diesen Vorwürfen und Abwertungen auszusteigen, hilft vielleicht das Wort „Aha“, in seinem freundlichen, interessierten Sinn. Angenommen, wir könnten denken: „Aha, das ist also dein Wunsch und das ist mein Wunsch. Was wollen wir jetzt mit diesen unterschiedlichen Wünschen machen?“ Ausgehend von dieser Basis könnten wir als die verantwortlichen Erwachsenen dann entscheiden, ob und inwieweit wir den Wunsch des Kindes in unser Handeln mit einbeziehen oder ob wir uns für zum Beispiel für unsere eigene Pause entscheiden – in aller Freundlichkeit.

Literatur Tipp: „Was Familien trägt – Werte in Erziehung und Partnerschaft“ von Jesper Juul. Hier hat Jesper im Kapitel Gleichwürdigkeit so schön in Worte gefasst, wie Gleichwürdigkeit im Alltag klingt.

Ein Vater ist unsicher wie er reagieren soll, wenn sein 2-jähriger Sohn während einer Wutäußerung nach ihm tritt, denn wenn er ihn festhalten würde, wäre das aus seiner Sicht Gewalt, weil er damit über die körperlichen Grenzen seines Sohnes gehen würde.

Wenn ich einen Menschen, egal wie alt, daran hindere, mir weh zu tun, ist das aus meiner Sicht keine Gewalt, sondern Selbstschutz. Verletzend für das Kind wird es, wenn ich denke: „Hör doch mal auf – du willst doch auch nicht getreten werden – sag mal, geht’s noch? – so kann man sich nicht benehmen!“, denn damit mache ich das Kind verkehrt, weil meine Botschaft lautet: Verhalte dich anders! Sei anders!

Es dauert einfach noch ein paar Jahre, bis das Kind verstehen kann, was gerade in ihm los ist, was sein Verhalten bei anderen verursacht und bis es genügend Selbststeuerung hat, um andere Wege zu finden, um sich auszudrücken und für sich einzustehen.

Ein Kind braucht dabei freundliche Begleitung und unser Vorbild. Diese Selbstachtung meiner Person, wenn ich andere daran hindere, über meine Grenzen zu gehen, ist gleichzeitig auch eine wichtige Lernerfahrung für das Kind: Was kann ich tun, wenn andere meine Grenzen überschreiten? Wie kann ich einschreiten, ohne den anderen zu verletzen?

Ich wollte das 2-jährige Kind mit ausgestrecktem Arm auf Abstand halten, seine Wutäußerung anerkennen und mich für seine Welt interessieren: „Ich habe den Eindruck, du bist wütend. Kann das sein?“ Damit würde ich meine Position deutlich machen (ich lasse nicht zu, dass du mich trittst) und ich würde mich für die Welt des Kindes interessieren: Was ist gerade bei dir los?

Und weil das Kind zwei Jahre alt ist, wird das kein langes Gespräch werden, viel wichtiger ist die nonverbale Botschaft: Ich sorge für meine Grenzen und ich bin für dich da.

Das entspricht ja unserer menschlichen Natur. Wir möchten Menschen, die unglücklich sind, gerne beistehen, sie in den Arm nehmen. Und zum Glück sind die Zeiten fast vorbei, wo unglückliche Kinder in ihr Zimmer geschickt oder vor die Türe gesetzt wurden.

Ich habe fast geschrieben, weil ich jetzt in einer Kindertagesstätte erlebt habe, dass ein Kind vor die Türe geschickt wurde, und erst wieder reinkommen durfte, wenn es mit seinem „Geheule“ aufgehört hatte, weil es ja damit die anderen Kinder störe. Da springt bei mir eine Fantasie an, was diese Fachkraft wohl erlebt haben musste, dass sie dazu fähig ist. Und sie braucht keine Kritik und auch keine Verurteilung für Ihr Verhalten. Aus meiner Sicht ist eine Klarstellung nötig, dass ein solches Verhalten in der Kindertagesstätte nicht akzeptiert wird, und sie braucht freundliche Begleitung, um neue Wege zu entwickeln, wie sie in solchen Situationen anders reagieren kann, so dass niemand verletzt wird. Auch sie sollte damit nicht alleine gelassen werden, denn glücklich ist sie damit bestimmt nicht.

Und was ist mit Wut? Wenn man wütend ist, ist man ja auch nicht gerade glücklich. Sollten wir wütende Kinder auch nicht alleine lassen?

Hier geistert durch Elternköpfe zuweilen der Gedanke, die Wut gemeinsam durchstehen zu müssen, dabei bleiben zu müssen, wenn das Kind wütend ist. Doch ist das eine gute Idee?

Wenn Kinder ihr Ich entwickeln stellen sie fest, dass die Welt oft anders ist, als es ihrem eigenen Willen entspricht. Bauklötze machen nicht, was man will und Eltern oft auch nicht. Mit ihrer Wutäußerung machen sie klar, dass sie damit nicht einverstanden sind, und haben auch eine Menge Energie zur Verfügung, die Welt in ihrem Sinne zu verändern. Stoßen sie dabei an ihre Grenzen, weil wir zum Beispiel das Fluten des Badezimmers eindämmen, sind sie so richtig wütend.

Was bedeutet es hier, die Wut zu begleiten? Kinder brauchen zur Verarbeitung dieser Frustration Zeit, und die meisten auch Ruhe.

Das fällt uns Eltern zu weilen schwer, denn wir möchten unserem Kind helfen, es trösten, oder vielleicht auch selbst Ruhe haben. Dann fangen wir an zu argumentieren oder Vorschläge zu machen, doch all diese guten Gedanken kann ein Kind in diesem Moment nicht verarbeiten. Erst muss es wieder zur Ruhe gekommen sein und die meisten Kinder wollen in dieser Phase der Verarbeitung keine Blicke, keine Worte, keine Berührungen.

Als mein Sohn vier Jahre alt war, fuhr mein Mann zum Trainieren ins Schwimmbad. Mein Sohn brach in Tränen aus. „Ich will auch ins Schwimmbad“. Es war Sonntag und ich habe gesagt: „Gut, wir packen unsere Sachen und fahren dem Papa hinterher.“ Das Weinen wurde noch lauter. Mein ganzes Argumentieren (…wir sehen den Papa doch dann im Schwimmbad, der wartet da auf uns…) machte es nur noch schlimmer. Als er sich wieder beruhigt hatte, meinte er: „Ich wollte doch mit dem Papa gefahren sein.“ Diese verpasste Chance zu verarbeiten, dafür braucht er einfach Zeit und Ruhe.

Was Kinder in solchen Momenten gut gebrauchen können, ist unser Einverstandensein mit ihrer Wut.

Der Teil unseres Gehirns, der Gefühle verarbeitet, hat im Gegensatz zum Verstand immer „offen“. Kinder nehmen also auch in wütenden Zustand war, wie unsere Haltung ist, ob wir mit der kindlichen Wut einverstanden sind, ob sie da sein darf, und ob wir Zutrauen haben, dass das Kind mit seiner Wut klarkommen wird. Wenn wir in diesen Momenten denken könnten: „Guck mal, gerade lernt mein Kind auszuhalten, dass die Welt manchmal anders ist, als wir sie uns wünschen“, dann könnten wir gelassener bleiben und einfach nur abwarten, bis das Kind wieder zur Ruhe gekommen ist.

Während wir abwarten, können wir gerne auch Wäsche zusammenlegen oder einen Tee trinken, wir müssen nicht danebenstehen, sondern können unserem eigenen Leben währenddessen folgen. Zweijährige Kinder wissen, dass wir da sind, auch wenn sie uns nicht sehen. Und sie wissen auch, wo sie uns finden können, wenn ihnen wieder nach Kontakt ist.

Dieses für unser Kind Dasein, also das Gegenteil von es alleine zu lassen, ist ein innerer Zustand. Kinder spüren ganz genau, ob wir einverstanden sind, oder ob wir die Wut „weghaben wollen“ und das Kind dann mit seiner Wut alleine lassen. Aus meiner Sicht ist dieser innere Zustand, mit dem ich einem Kind begegne, eine ganz entscheidende Qualität.

Hat das Kind seine Wut verarbeitet, nimmt es von alleine wieder Kontakt auf. Und dann ist es aus meiner Sicht eine gute Idee, das Thema nicht noch mal aufzuwärmen, sondern das Leben wieder gemeinsam zu genießen.

Ich denke, so ist es. Und das ist ja eine Riesenchance, weil wir dadurch viel dazu beitragen können, dass unsere Kinder sich selbst mögen und in ihrer Haut wohlfühlen.

Gleichzeitig ist es aber auch eine Riesenlast für Eltern, weil wir natürlich wissen, wie wichtig ein gut entwickeltes Selbstwertgefühl ist und wenn wir dann unsere Kinder angemeckert haben oder auch mal völlig eskaliert sind, tragen wir schwer an unseren Selbstvorwürfen.

Deshalb möchte ich folgendes sagen:

Kinder sind resilient, und ebenso wie unser Körper Verletzungen reparieren kann, ist auch unsere Psyche auf Heilung aus. Und genauso wie wir nicht verhindern können, dass unsere Kinder sich mal das Knie aufschürfen oder einen Arm brechen, können wir auch psychische Verletzungen nicht immer verhindern, weil wir eben nur der Mensch sein können, der wir im Moment unseres Handelns sind, und manchmal sind wir eben unachtsam oder überfordert oder in alte Muster verstrickt oder…

Eltern waren noch nie so entwicklungsbereit wie heute, immer besser zu lernen, die Integrität und die Grenzen ihrer Kinder zu wahren. Alleine schon die Tatsache, dass Eltern sich heute überhaupt Gedanken um das Selbstwertgefühl von Kindern machen, ist ein Ergebnis der persönlichen Entwicklung von Eltern heute.

Mathias Voelchert hat mal gesagt: „Die Bewegungen der Seele sind langsam.“ Und weil das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht, auch bei Eltern nicht, brauchen wir ein wenig Zeit, um uns zu entwickeln – und Freundlichkeit mit uns selbst, wenn es uns mal nicht so gut gelungen ist. Denn so wird es immer mal wieder sein, und was Kind dann brauchen ist ein gutes Heilungsklima.

Denn ebenso wie eine Wunde am Knie ein gutes Heilungsklima braucht, braucht das auch unsere Psyche. Um ein gutes Heilungsklima in der Familie zu erzeugen, damit Verletzungen gut heilen können, brauchte es aus meiner Sicht vor allem Eltern, die sich selbst gut versorgen. Denn wenn es uns gut geht, können Kinder spüren, dass sie uns herzlich willkommen sind – das Herzstück für ein gutes Selbstwertgefühl.

Gut für sich selbst zu sorgen, das startet oft mit einem freundlichen Nein zu den Wünschen und Vorstellungen anderer, damit unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse überhaupt einen Raum haben. „Nein aus Liebe“ von Jesper Juul finde ich dazu sehr inspirierend.

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